Die Familientherapie

Im Vergleich zu Paarbeziehungen sind Familien recht komplexe Gebilde. Aus diesem Grund ist die psychoanalytische Familientherapie die anspruchsvollste und am schwersten zu handhabende Therapieform unter den analytischen Verfahren.

Man vergleiche die Zahl der Beziehungen:

  • Ein Paar besteht aus einer einzigen Dyade.
  • Eine Ein-Kind-Familie ist strukturell durch den Generationsunterschied geprägt und enthält 3 Dyaden und eine Triade. Die dritte Partei kann von den zwei anderen ausgeschlossen werden.
  • Eine Zwei-Kind-Familie besteht aus 6 Dyaden, 4 Triaden und eine Tetrade. Die Möglichkeiten der Koalitionsbildung und des wechselseitigen Ausschlusses sind hier schon hochgradig komplex. Strukturell kommt das Geschwistersystem als Dyade hinzu.

Als Lebensgemeinschaft, bei der Eltern auch Erziehungsverantwortung für die Kinder übernommen haben, ist ein wechselseitiger Verpflichtungszusammenhang gegeben, der bei Kindern nicht rückgängig gemacht werden kann. Auch wenn Eltern sich trennen, bleiben sie Eltern, die weiterhin Verantwortung für ihr Kind/ihre Kinder übernommen haben.

Die Liberalität unserer Gesellschaft sowie die Fortschritte der Fortpflanzungsmedizin haben vielfältige neuartige Familienkonstellationen hervorgebracht, die aber jeweils auch eigene Konfliktdynamiken haben. Noch stärker als bei Paaren kann man bei Familien verschiedenen Entwicklungsstadien mit jeweils spezifischen Krisenpotenzial unterscheiden.

  • Die Phase der Familiengründung, der beruflichen Positionierung nach Ausbildung oder Studium, wobei ein Kleinkind aufgrund von seiner Bedürftigkeit besonders viel Nähe und Zuwendung benötigt.
  • Ganz anders gestaltet sich das Familienleben, wenn Kinder in die Pubertät kommen und das Thema der Ablösung und Verselbstständigung der nun „halbstarken“ Kinder den Familienalltag beherrscht. Schulschwierigkeiten, berufliche Findungsschwierigkeiten, Identitätsunsicherheit sowie das Erwachen von bisher in der Intensität unbekannten sexuellen Fantasien und Wünschen können bei Heranwachsenden zu dramatischen Symptomen führen, zumal die Phase der Adoleszenz durch Verflüssigung bisher verfestigter psychischer Strukturen charakterisiert werden kann. Verschiedene Formen der Ablösung von den Eltern können das Familienklima belasten. Hier sei beispielhaft nur die Ausstoßungen oder die übermäßige Bindung eines Heranwachsenden erwähnt. Konflikte nehmen wir oft dramatische Formen an, da Heranwachsende durch auffälliges Verhalten oder geschickte Argumentation ein erhebliches Machtpotenzial über Eltern haben.
  • Und wieder anders sind die Herausforderungen, die Eltern zu meistern haben, wenn die Kinder das Haus verlassen haben, in Frieden oder Unfrieden. Das Alleinsein, das auf sich selbst zurückgeworfen sein als Eltern macht deutlich, dass den Kindern die Zukunft gehört, während man selbst als Elternteil dem Alter und dem Tod zu strebt. Auch fragen sich Eltern, ob Ihre Liebesbeziehung den bisherigen Anforderungen und Auseinandersetzungen standgehalten hat oder nur der Gewohnheit zuliebe, aus Angst vor dem Alleinsein im Alter O. E. Noch aufrechterhalten wird.
    Ein in der Neuzeit bedeutendes Phänomen ist auch die sogenannte Patchwork Familie anzusehen. Sie entsteht dadurch, dass sich zwei Elternteile, die gescheiterte Liebesbeziehungen hinter sich haben, ineinander verlieben und die jeweiligen aus erster Beziehung stammenden Kinder in ein Problemfeld gespaltener Loyalität hineingeraten, vor allem dann wenn die Trennung von den ehemaligen Partnern besonders strittig gewesen ist.

Was kann eine Familientherapie leisten? Eine wichtige Aufgabe ist, eine Erstarrung der familiären Rollen sowie dysfunktionale Koalitionen, verdeckte Bündnisse, Ausstoßungsphänomene, erstickend enge Bindungen ohne Spielraum für den jeweils Betroffenen aufzuarbeiten und rückgängig zu machen. Eine besondere Rolle spielt ja auch die Drei-Generationen-Perspektive. Denn die Familienneugründung stellt eine Allianz zwischen zwei Herkunftsfamilien her, die jeweils mit ihren ungelösten Konflikten in das Zusammenleben der neu gegründeten Familie hineinspielen. Eine besonders destruktive Rolle spielen hierbei verschwiegene Erlebnisse und Familiengeheimnisse von Seiten der jeweiligen Eltern der Herkunftsfamilien. Im gleichen Gegensatz zu eher systemischen Ansätzen spielt die Erinnerung an die eigene Kindheit, die Kindheit des jeweiligen Partners und eventuell auch die Kindheit der jeweiligen Eltern eine zentrale Rolle. Familienrollen werden sozusagen durch Arbeit an der Erinnerung narrativ verflüssigt

Das familientherapeutische Setting ist ebenfalls – wie in der Paartherapie – weniger zeitintensiv als Einzeltherapie (ca. zehn Sitzungen alle 14 Tage) aufgrund der Rolle des Therapeuten als Dialogermöglicher. Natürlich möchte ich zu Beginn alle Familienmitglieder kennenlernen, es kann sich aber herausstellen, dass die weitere Arbeit auch mit Untergruppen der Familie stattfinden kann, etwa wenn Eltern ohne die Kinder eingeladen werden usw.


Einbezug von Angehörigen

Eine Besonderheit in meiner Praxis ist die Tatsache, dass die Angehörigen von Patienten, also Partner, Kinder, Eltern in die Behandlung je nach Bedarf einbezogen werden. Auch in der Therapie eines einzelnen Patienten, sei es in der klassischen Einzeltherapie oder in der Gruppe hat man es nie mit diesem allein zu tun.

Durch die Schilderungen des Patienten sind Angehörige imaginär in den Schilderungen, sozusagen als „Phantome“ immer mit anwesend. An sich ist ursprünglich die psychoanalytische Behandlung so gedacht worden, dass es darum geht, die Innenwelt des Patienten, also seine subjektiven Sichtweisen auf die Dinge zu entfalten und ihnen möglichst breiten Raum zu geben. Diesem Anliegen stimme ich auch unumwunden zu. Es ist nur zu bedenken, dass die Angehörigen nicht nur Phantome bleiben, sondern gerade durch positive Veränderungen des Patienten, die sich in angstfreien Verhaltensweisen äußert, häufig äußerst irritiert oder gar alarmiert sind.
Häufig reagieren sie mit entsprechenden defensiven Gegenbewegungen, die dazu führen können, den errungenen therapeutischen Fortschritt eines Patienten zunichte zu machen.

Es ist leider so, dass es im interpersonellen Feld keine absolute Wahrheit und Objektivität gibt. Aussagen wie „Du bist zänkisch“ oder „Ich habe recht“ sind niemals objektive Aussagen, sondern Feststellungen, deren Plausibilität erst dann nachvollziehbar ist, wenn man den persönlichen Hintergrund einer solchen Aussage nachvollziehen kann. So gibt es Patienten, die in ihren Erzählungen ein projektiv stark verzerrtes Bild ihre Angehörigen liefern und häufig zu einer unbewussten Parteinahme der Therapeuten für ihre Patienten führen und sie dann gemeinsam von dem Weg der Arbeit am inneren Konflikt abkommen. Dies hat zur Folge, dass sich Angehörige durch die Behandlung verkannt, ja häufig diffamiert und verunglimpft fühlen.
Ganz besonders belastend ist der gern erhobene Schuldvorwurf. In konflikthaften Auseinandersetzungen ist der an den andern erhobene Schuldvorwurf eine Art Waffe, um selbst mit stolz erhobenem Haupt als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorzugehen.
Aus psychoanalytscher Sicht ist der Schuldvorwurf eine Kurzschlussreaktion. Dabei wird unterstellt, dass der Beschuldigte etwas vorsätzlich Böses oder Schädigendes dem Beschuldiger angetan hat. So verrückt das klingt, halte ich jeden Schuldvorwurf für unangemessen. Er entbindet von der mühseligen Arbeit, sich in die Hintergründe der anderen Persönlichkeit einzufühlen.


Die Arbeit mit Angehörigen ist einer Sichtweise geschuldet, dass diese eigene in sich stimmige Sichtweisen bzw. Perspektiven auf den jeweiligen Patienten haben. Hier sehe ich es als entscheidend für den späteren Therapieerfolg an, dass deren Perspektiven als in sich stimmig anerkannt und gleichberechtigt neben der Perspektive des Patienten gestellt werden. Erst dann kann man als Therapeut tieferen Einblick in das multipolare Konfliktgeschehen bekommen.

Dazu ist es notwendig, dass die Angehörigen, die durch den therapeutischen Prozess in eine defensive Position gedrängt wurden, rehabilitiert werden. Der Grundgedanke dabei ist, dass Veränderungen bzw. Heilung als gemeinsame Entwicklung von Patient und Angehörigen, als eine Art Koevolution verstanden werden, wobei der Patient – so verstanden – selbst nicht nur der Symptomträger ist, sondern in die Rolle eines Vorreiters gerät, dessen Symptome als Hinweise oder gar Alarmzeichen auf Spannungen im interpersonellen Feld verstanden werden.