Gruppen-Psychotherapie:
ein Mysterium

Meine Praxis bietet schwerpunktmäßig Gruppenbehandlungen an. Ein solches Angebot stößt bei den Patienten auf Skepsis. Daher habe ich versucht, die Wirkungsweise von Gruppenpsychotherapie möglichst lebendig und gleichnishaft zu schildern, damit interessierte Patienten eine realistische Vorstellung davon bekommen, was sie erwartet.

Voranschicken möchte ich, dass analytische Gruppen – ähnlich wie die analytischen Einzelbehandlung – keine vorgegebene Struktur hat, wie etwa eine Tagesordnung oder vorgegebene Themen, oder Blitzlichter usw. Es ist schwer, Außenstehenden davon einen angemessenen Eindruck zu vermitteln.
Die Bevorzugung dieses Settings hängt damit zusammen, dass nach meinen klinischen Erfahrungen Gruppenbehandlungen im Durchschnitt erfolgreicher sind als Behandlungen im Einzelsetting.

Die Gruppe ist eine Höhle


Sie spendet Geborgenheit, ruft frühe Kindheitserinnerungen an Geborgenheit oder auch Ungeborgenheit wach. Eine Atmosphäre von Sicherheit und Vertrauen ist Voraussetzung dafür, sich schmerzhaften Erinnerungen aus der Kindheit, Ängsten, Demütigungen, Missbrauchserfahrungen öffnen zu können. In einer haltgebenden Atmosphäre können Sie den einstigen Schrecken verlieren.

Die Gruppe ist eine Mutter und jeder einzelne Patient deren Kind


Viele Patienten sind in einer zu sehr vereinnahmenden, besitzergreifenden oder uneinfühlsamen, abweisenden oder gar verstoßenden Familiensituation großgeworden. Für sie ist die Empathie durch die Gruppenmitglieder oder den Leiter eine neue Erfahrung. Für viele Menschen ist dies eine neue Erfahrung, auf einer Gefühlsebene verstanden und wertgeschätzt zu werden und auf diesem Weg das eigene verborgene bzw. verletzliche Selbst entdecken zu können.

Die Gruppe ist ein erweiterter Raum deines Selbstes


Fragt man Expatienten, welche Besonderheit der Gruppe am meisten ausschlaggebend war für den erzielten therapeutischen Erfolg, dann sagt die überwiegende Mehrzahl: das Gefühl, dass man mit seinen eigenen Problemen nicht allein ist und andere Mitpatienten ähnliche Probleme haben und ähnlich offen darüber reden, wie man selbst. Die Scham, anders zu sein als die übrige normale Welt, spielt in diesem geschützten Raum kaum eine Rolle.

Die Gruppe ist ein Spiegelkabinett


Sie bekommen als Teilnehmer in einer Gruppe gespiegelt, wie Sie sich verhalten, wie andere Menschen Sie erleben. Aufgrund der Anzahl der Gruppenmitglieder sind die Spiegelreaktionen recht facettenreich. Auf diesem Wege bekommen Sie einen vollständigeren Eindruck, wie Sie auf andere Menschen wirken. In der Einzeltherapie ist ein solcher Facettenreichtum nicht möglich.

Die Gruppe ist eine Familie


Ich versuche, therapeutische Gruppen möglichst heterogen hinsichtlich des Alters, des Geschlechtes, der Symptomatik oder des sozialen Milieus zusammenzusetzen. Warum? Zunächst bildet die Gruppe auf unbewusster Ebene den Erlebnisraum einer Familie nach, weil – nach Möglichkeit – der Generationsunterschied und auch der Geschlechtsunterschied in der Gruppe repräsentiert ist. Die Gruppe bietet daher die Chance, Konflikte aus der eigenen Familie in der Gruppe nacherleben zu können, indem Patienten das Muster des Familienkonfliktes und die eigene Rolle in diesem Konfliktgeschehen unbewußt in dem Hier und Jetzt des Gruppengeschehens reinszenieren und auf diese Weise dem eigenen Versehen zugngänglich zu machen. Zudem bietet sie die Chance, die durch das jeweilige soziale Milieu geprägte Formen der Anpassung und Affektsteuerung zu reflektieren und sich aus der Enge der eigenen spezifischen familiären Sozialisation herauszulösen.

Die Gruppe ist ein Raum interkultureller Begegnung im weitesten Sinne


Ich bin in der glücklichen Lage, speziell in Frankfurt die Möglichkeit anzubieten, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit den entsprechenden kulturtypischen Problembelastungen einander begegnen. Die Erfahrung von Fremdheit, von Misstrauen vor dem Unbekannten und deren Auflösung ist ein hoher Anreiz, die eigenen festgefahrenen affektiven Prägungen zu „verstören“. Mitgebrachte rassistische Klischees und Vorurteile brechen sich in der Kleingruppe an gegenläufigen affektiven Erfahrungen. Unterschiedliche soziale und kulturelle Milieus verkörpern unterschiedliche Affektkulturen, deren Aufeinandertreffen in der Gruppe erstarrte eigene Reaktionsmuster verflüssigen und auflockern können.

Die Gruppe ist eine Gemeinschaft von Geschwistern


Mitpatienten sind in gewisser Weise aufgrund des gemeinsamen Schicksals im Gruppengeschehen wie Geschwister zueinander, wobei einzig der Gruppenleiter, aus dieser geschwisterlichen Ebene herausragt. Die geschwisterliche Liebe ist eine Ressource von Solidarität und ein Schutz gegen elterlichen Autoritarismus oder elterliche Vereinnahmung. Aber auch die Kindheitserfahrung, von den Eltern bevorzugt oder benachteiligt worden zu sein, kann im Gruppengeschehen nacherlebt werden. Einerseits ist die geschwisterliche Liebe das Lebenselixier einer Gruppe, andererseits können nur in der Gruppe häufig verleugnete Gefühle wie Rivalität, Neid und Eifersucht bearbeitet werden. Dies sind Themen, die in ihrer Bedeutsamkeit oft sehr unterschätzt werden und in der Einzeltherapie häufig unbearbeitet bleiben.

Die Gruppe ist ein Floß, das im Fluss der Zeit vor sich hin treibt


Hiermit spiele ich darauf an, dass die Gruppe im unbewussten Erleben der Teilnehmer „unsterblich“ ist. Patienten, die genesen sind, verlassen die Gruppe so wie man beispielsweise auch das Elternhaus verlässt. Der freigewordene Behandlungsplatz wird dann mit Nachrückerpatienten neu besetzt (sog. slow open group). Gelegentlich ist es auch nötig, dass bei neu eintretenden Lebensereignissen Patienten wiederkommen und erneut das alte Floß betreten, um sich eine Weile im Strom der Zeit weitertreiben zu lassen. Ein Gruppenpatient erlebt auf diese Weise, wie neue Bindungen entstehen und zugleich lieb gewordenen Bindungen im Trennungsprozess betrauert werden, und dennoch die Gruppe als „imaginäre Instanz der Geborgenheit“nicht verschwindet, sondern bleibt.

Die Gruppe ist ein Resonanzkörper


Durch die „Zusammenballung“ mehrerer Patienten auf kleinem Raum ist die emotionale Ansteckung, die Resonanz, dass gefühlsmäßige Aufeinanderreagieren außerordentlich intensiv. Auch ein passiver Patient, der vielleicht gerade kein Redebedarf hat, wird mitgerissen und angesteckt von den „vibrations“, die im Laufe der Sitzung entstehen. Diese Gefühlsintensität findet häufig in „Gruppenträumen“ einzelner Mitglieder ihren Niederschlag. Überhaupt nimmt die Traumaktivität von Patienten im Laufe des Gruppenprozesses an Häufigkeit und Lebhaftigkeit zu.

Die Gruppe ist ein Gerichtshof mit Zeugen speziell bei Themen sexueller Gewalt


Erlebte sexuelle Traumatisierungen sind heute noch genauso wie zu Freuds Zeiten sehr verbreitet. Das Sprechen darüber ist extrem schambelastet. Welches ist der geeignetste Rahmen, um beim Sprechen darüber von den Gefühlen der Scham entlastet zu sein? Intuitiv würden die meisten sagen, dass ein Gespräch unter vier Augen die denkbar höchste Vertrautheit ermöglicht. Aber: eine Zwei-Personen-Situation kann zugleich sehr intim sein, ohne Zeugen. Dies kann bei Patienten zu Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein führen. Das Sich-öffnen – verbunden mit ausreichendem Selbstschutz und ausreichender Abgrenzung – ist in der Zweiersituation ein oft schwieriger Balanceakt.

Wie ist es in der Gruppe? Ist eine Gruppe nicht erst recht überfordert, wenn ein Patient solche schambelasteten Erlebnisse preisgibt? Paradoxerweise ist dies häufig genau umgekehrt. Warum? Die Gruppe ist sowohl ein Ort der Intimität und als auch ein Ort der Öffentlichkeit. Sexuelle Gewalt wird nach bestem Vermögen von den Tätern verheimlicht. Wenn PatientInnen ihren MitpatientInnen in der Gruppe davon berichten, legen sie mithin Zeugnis ab von dem Erleben und Nachfühlen intimer Gewalt.

Dies bedeutet: in der Gruppe gibt es neben dem Opfer und dem Therapeuten auch die Gruppe der Zeugen. Die häufigen Zweifel, ob die erlebte sexuelle Gewalt nur eingebildet ist oder hinter einem Schleier von Unwirklichkeit verborgen ist, können am wirksamsten durch die Partei der Zeugen zerstreut werden. Damit ist die Szene der erlittenen Gewalt eine gemeinsam geteilte Realität.
Diese scheinbare Paradoxie umschreibt eines der eindrücklichsten und emotional aufwühlendsten Erfahrungen bei Gruppenbehandlungen. Die dritte Partei der Zeugen ermöglicht die Stärkung der inneren Selbstbeobachtung von traumatisierten PatientInnen und eine innere Distanzierung vom Tatgeschehen. Das Vorhandensein einer dritten Partei öffnet das Setting der Verstrickung zwischen Täter und Opfer.

Die Wahrheitssuche, was wirklich gewesen ist, ist dann kein einsames Herumirren mehr, sondern ein gemeinsames Erlebnis mit Zeugen. Und zudem: man sagt, ein Unglück kommt selten allein. Analog hierzu kann man sagen. Ein Opfer sexueller oder körperlicher Gewalt ist in Grupen selten allein. Wenn sich erst einmal ein/e PatientIn geöffnet hat, dann fällt es anderen PatientInnen leichter, sich ebenfalls mit ähnlichen Ertfahrungen zu öffnen. „Geteilte Scham“ ist „halbe Scham“.

Die Gruppe ist die demokratischste Therapieform


Während in der Einzeltherapie ein Machtgefälle zwischen Therapeut und Patient besteht, die der Eltern-Kindbeziehung oder der Lehrer-Schülerbeziehung nachgebildet ist, ist in der Gruppe jeder Patient auch Helfer und Kotherapeut, um durch kluge Interventionen oder Einfälle andere Mitpatienten in ihrem Selbstverständnis zu fördern. Zugleich ist er/sie selbst aber auch Nutznießer dieser Bemühungen seiner MitpatientInnen. Auch hier kann ich sagen, dass eine Gruppe plus einem Leiter mehr Kreativität aufbringt, als ein einzelner Therapeut.

Die Gruppe ist eine Art Tiefsee


Hiermit möchte ich umschreiben, dass es ein fataler Vergleich wäre, die Gruppenbehandlung als etwas oberflächliches, gar als eine Art „kollektives Geplapper“ zu betrachten. Dem liegt häufig die Auffassung zugrunde, dass die eigentliche Tiefe eines therapeutischen Gesprächs durch die Interventionen des Therapeuten zustande kommt. Im beruflichen oder privaten Alltag sind Gruppen meist durch feste vorgegebene Rollen strukturiert. Oder im Freundeskreis ist man unter gleich Gesinnten. Eine Therapiegruppe ist eine Gruppe von fremden Menschen. Es gibt keine vorgebahnten „Kontaktschienen“, keine gemeinsam geteilten Glaubenssätze oder Ideologien. Dies hat zur Folge, dass sich in therapeutischen Gruppen innerhalb kurzer Zeit ein dichtes Netzwerk von unbewussten Übertragungen und Appellen an die anderen Mitpatienten ausbildet und dieses Netzwerk zu einer gemeinsamen unbewussten Fantasie, einer unbewussten Gruppenfantasie, verschmilzt.

Die „Anarchie“, die durch die Vermeidung fester Rollen entsteht, führt dazu, dass die bewusstseinsfähigen Themen der jeweiligen Patienten eher in den Hintergrund treten zu Gunsten von bisher vermiedenen Themen. Die auf diesem Weg erreichte Regression in der Gruppe führt dazu, dass bisher verdrängte Erlebnisse einzelner Patienten dem Bewusstsein zugänglich werden. Hierbei spielen die beschriebenen Resonanzphänomene eine große Rolle. So werden in Gruppen oft Träume berichtet.
Viele PatientInnen träumen zum ersten Mal in ihrem Leben im Rahmen ihrer Gruppentherapie. Die Gruppe ermöglicht es, auf innige Weise, mit dem eigenen Unbewussten in Kommunikation zu treten und damit Zugang zu verdrängten Kindheitserlebnissen zu bekommen.

Die Gruppe ist ein Integrationsmotor


Die Mitpatienten, die der einzelne Patient „vorgesetzt“ bekommt, sind nicht nur im formalen Sinne fremd, sondern auch in vieler Hinsicht verschieden. Dies betrifft die unterschiedlichsten Symptome, Lebensstationen, Störungsgrade, aber auch sozialen Milieus, denen man jeweils entstammt. Hier denke ich nicht nur an unterschiedliche Schichten oder berufliche Identitäten, sondern auch an deutsche versus ausländische Mitpatienten. Spontan regt sich in einer solchen Gruppe das Gefühl, manche Mitpatienten nicht leiden zu können.

Die intime Kenntnis der Situation verschiedenster anderer Mitpatienten regt aber zu einer respektierenden, verzeihlicheren, empathischen Einstellung an, zu einem Zugewinn an Nachsicht und Toleranz. Durch diese Erfahrungen reifen auch Patienten in ihrer eigenen inneren Entwicklung, da sie auf diesem Weg lernen, sich selbst gegenüber toleranter, verzeihlicher und letztlich triebfreundlicher zu werden.

Die Gruppe ist ein halbiertes Psychologiestudium


Viele ehemalige Patienten berichten, dass sie auf rein kognitiver Ebene so viel über Gruppenprozesse und Symptomveränderungen bei einzelnen Patienten gelernt haben, dass sie diese Erfahrung nie mehr missen möchten und sie in ihrem Alltag oder in ihrer Berufswelt davon reichlich Gebrauch machen können.

Was die Gruppe nicht ist


Die Behandlung in einer Gruppe ist keine „Massenabfertigung“. In dieser Vorstellung liegt das am meisten verbreitete Vorurteil gegen diese Behandlungsform. „Was soll ich den Therapeuten mit Mitpatienten teilen, wenn ich ihn in der Einzeltherapie für mich alleine haben könnte?“

Für die Zweifler sei gesagt, dass die analytische Gruppenbehandlung ein wissenschaftlich erprobtes Verfahren ist, das von der gesetzlichen Krankenkasse über einen Zeitraum von maximal 4 Jahren finanziert wird. Deren Effektivität ist durch viele wissenschaftliche Studien mittlerweile belegt worden. Ich selbst beteilige mich in Kooperation mit der Universität Kassel an einem Qualitätssicherungsprojekt, bei dem Patientinnen regelmäßig durch Ausfüllen von Fragebogen in ihrem Gruppenprozess begleitet werden. Die Teilnahme an diesem Projekt ist natürlich freiwillig. Mithilfe des Qualitätssicherungsprojektes (QSP) wird es möglich sein, den Erfolg von Gruppenbehandlungen mit dem von Einzeltherapien zu vergleichen. Vorläufig muss ich es mit meinem eigenen Eindruck bewenden lassen, dass ich persönlich im Rahmen von Gruppenbehandlungen im Durchschnitt bessere Resultate, z. T. erheblich bessere Resultate erziele als in Einzelbehandlungen.

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